Geheimnisse

 

Ryath donnerte durch den vertrauten Himmel.

Über den Wäldern des Königreichs schwenkte sie ein. Ich muß jagen. Während des Fluges zog es die Drachendame vor, sich über die Gedanken mitzuteilen, doch auf festem Boden sprach sie laut.

Tomas drehte sich nach hinten zu Pug, der antwortete: »Es ist noch weit bis zu Macros' Insel. Fast tausend Meilen.«

Tomas lächelte. »Wir werden schneller dort sein, als du dir vorstellen kannst.«

»Wie weit kann Ryath fliegen?«

»Einmal um diesen Globus, ohne zu landen, obwohl sie wahrscheinlich sagen würde, daß es dafür keinen Grund gibt. Außerdem hast du noch nicht einmal den zehnten Teil ihrer Geschwindigkeit kennengelernt.«

»Gut«, antwortete Pug. »Dann also, wenn wir auf der Insel des Zauberers gelandet sind.«

Tomas bat die Drachendame um etwas Geduld, und sie stimmte widerwillig zu. Sie stieg hoch in den Himmel von Midkemia auf und flog nach den Anweisungen von Pug über Bergspitzen hinweg zum Bitteren Meer. Mit mächtigen Flügelschlägen stieg sie, so hoch sie konnte. Bald schoß die Landschaft unter ihnen nur noch so dahin, und Pug fragte sich, wie schnell ein Drache wohl fliegen konnte. Sie bewegten sich schon viel schneller als ein galoppierendes Pferd, und Ryath legte noch an Geschwindigkeit zu. Scheinbar hatte die Fähigkeit des Fliegens auch etwas mit Magie zu tun, denn die Reise in schwindelnder Höhe gewann weiter an Tempo, obwohl Ryath kaum mit den Flügeln schlug. Schneller und schneller flogen sie dahin. Es war sehr bequem, was sie Tomas' Magie verdankten, die sie vor Wind und Kälte schützte, dennoch wurde Pug etwas schwindlig. Die Wälder der Fernen Küste zogen unter ihnen hinweg, dann die Grauen Türme, und schließlich überquerten sie das Land der Freien Städte von Natal. Als nächstes befanden sie sich schon direkt über dem Wasser des Bitteren Meeres. Auf der tiefblauen See glitzerte es silbern und grün, und die Schiffe auf den Handelsrouten des Sommers zwischen Queg und den Freien Städten sahen aus wie Kinderspielzeuge.

Wahrend sie hoch über dem Inselkönigreich von Queg dahinschossen, konnten sie die Hauptstadt und die verstreut liegenden Ortschaften sehen, die aus dieser Höhe ebenfalls wie Spielzeug wirkten. Weit unter ihnen glitten beflügelte Schatten in Formation über die Küste des Landes, und der Drache kicherte fröhlich. Ihr kennt sie, nicht wahr, Herrscher des Adlerreichs?

Tomas sagte: »Sie sind nicht mehr das, was sie einst waren.«

Pug fragte: »Worum geht es?«

Tomas zeigte nach unten. »Das sind die Nachfahren der Riesenadler, mit denen ich ... Ashen-Shugar vor Ewigen Zeiten jagte. Ich ließ sie fliegen, so wie niedere Menschen heute Falken fliegen lassen. Diese alten Vögel waren auf ihre Weise intelligent.«

Die Männer der Inseln richten sie ab und reiten sie wie andere Menschen Pferde. Sie sind eine unterworfene Rasse.

Tomas schien irritiert zu sein. »Wie so viele sind sie heute nur noch ein Schatten von dem, was sie einst waren.«

Belustigt antwortete der Drache: Und dennoch findet man auch einige, die noch gewachsen zu sein scheinen, Valheru.

Pug sagte nichts. Sein Freund bewahrte so viele Geheimnisse, die nie ein Mensch ergründen würde. Tomas war einzigartig auf dieser Welt, und auf seiner Seele lagen Lasten, die kein anderes Wesen begreifen konnte. Pug konnte vage verstehen, wie diese Abkömmlinge der stolzen Adler, mit denen Ashen-Shugar gejagt hatte, Tomas schmerzen mußten. Doch wie sehr Tomas das auch beunruhigen mochte, er war damit ganz allein.

Kurze Zeit später kam eine weitere Insel in Sicht, winzig im Vergleich zu Queg, doch immer noch groß genug, daß sie eine ansehnliche Bevölkerung aufnehmen konnte. Doch Pug wußte, hier wohnten nur wenige, denn es war die Insel des Magiers, das Heim von Macros dem Schwarzen.

Als sie über den nordwestlichen Rand der Insel rasten, tauchten sie tiefer, glitten über eine Hügelkette und dann über ein kleines Tal hinweg. Pug sagte: »Das kann doch nicht sein!«

Tomas fragte: »Was?«

»Es gab hier früher einen eigentümlichen Ort. Ein Haus mit Außengebäuden. Dort habe ich Maeros kennengelernt. Kulgan, Gardan, Arutha und Meecham waren ebenfalls dabei.«

Über hohen Bäumen stießen sie herab. Tomas sagte: »Diese Eichen und Kiefern sind in den fast zwölf Jahren, seit du den Zauberer kennengelernt hast, nicht mehr gewachsen, Pug. Es sind uralte Bäume.«

Pug erwiderte: »Das ist ein weiteres von Macros' Geheimnissen. Also bete lieber, daß die Burg wenigstens noch da ist.«

Ryath flog wieder über eine Hügelkette, und sie konnten das einzige Gebäude auf der ganzen Insel sehen: eine einsame Burg. Über dem Strand, wo Pug und seine Gefährten vor Jahren zuerst an Land gegangen waren, legten sie sich in die Kurve, und der Drache sank rasch tiefer und landete auf einem Weg oberhalb des Sandes. Ryath verabschiedete sich von ihren Freunden, stieg wieder in die Luft und machte sich zur Jagd auf. Während er dem im Azur des Himmels verschwindenden Drachen nachsah, sagte Tomas: »Ich hatte vollkommen vergessen, wie es ist, einen Drachen zu reiten.« Nachdenklich blickte er Pug an. »Als du mich gefragt hast, ob ich dich begleite, hatte ich Angst, ich würde die schlafenden Geister wecken.« Er klopfte sich an die Brust. »Ich dachte, hier drin würde Ashen-Shugar nur darauf warten, eine Ausrede zu finden und mich wieder zu überwältigen.« Pug studierte Tomas' Gesicht. Sein Freund konnte seine starken und tiefen Gefühle gut verbergen, doch Pug bemerkte seine Bewegtheit trotzdem. »Aber jetzt weiß ich, zwischen Ashen-Shugar und Tomas gibt es keinen Unterschied. Ich bin beide.« Er senkte den Blick für einen Moment, und das erinnerte Pug daran, wie Tomas als Junge immer dreingeschaut hatte, wenn er sich für irgendeine Missetat bei seiner Mutter entschuldigte. »Ich fühle mich, als hätte ich beide gewonnen und verloren.«

Pug nickte. »Wir werden niemals wieder die Jungen sein, die wir einmal waren, Tomas. Aber wir sind etwas Größeres geworden, als wir uns erträumt haben. Dennoch sind die Dinge von Wert immer einfach. Oder leicht.«

Tomas starrte hinaus aufs Meer. »Ich habe gerade an meine Eltern gedacht. Ich habe sie seit dem Ende des Krieges nicht mehr besucht. Ich bin nicht mehr der, den sie einmal gekannt haben.«

Pug verstand ihn. »Es wird schwer für sie sein, doch sie sind gute Menschen und werden deinen Wandel annehmen. Und sie werden ihr Enkelkind sehen wollen.«

Tomas seufzte, dann lachte er, halb vergnügt und halb verbittert. »Calis ist ziemlich anders als das, was sie erwartet haben, aber mit mir ist es ja genauso. Nein, ich fürchte mich nicht davor, sie wiederzusehen.« Er sah Pug an. Leise sagte er: »Ich fürchte mich davor, sie niemals wiederzusehen.«

Pug dachte an seine eigene Frau, Katala, und an die anderen in Stardock. Er faßte Tomas für einen Moment am Arm und dachte nach. Trotz ihrer Stärke und ihrer Fähigkeiten, ihren in dieser Welt unerreichten Talenten, waren sie sterblich, und noch mehr als Tomas war sich Pug dessen bewußt. Und Pug behielt noch tiefere Ahnungen und dunklere Ängste für sich. Die Stille der Eldar und ihrer Übungen, ihre Gegenwart auf Kelewan, und die Einblicke, die er durch ihren Unterricht erhalten hatte, zeigten Pug all jene Möglichkeiten, von denen er hoffte, daß sie sich nicht bewahrheiteten. Er hatte beschlossen, darüber erst zu reden, wenn ihm keine andere Wahl mehr blieb. Also schob er seine Sorgen zur Seite und sagte: »Komm, wir müssen Gathis suchen.«

Sie standen da und überblickten den Strand. An einer Stelle teilte sich der Weg. Pug wußte, der eine Pfad führte zur Burg, der andere in das Tal, wo das seltsame Haus mit den Nebengebäuden gestanden hatte, vom Zauberer Villa Beata genannt, in dem er Macros zum ersten Mal begegnet war. Pug wünschte sich nun, sie hätten den Komplex besichtigt, als er und die anderen zurückgekehrt waren, um das Erbe von Macros anzutreten und die Akademie in Stardock zu eröffnen. Denn diese Gebäude waren verschwunden, und an ihrer Stelle fanden sie nur diese uralten Bäume ... ein weiteres der vielen Geheimnisse, die sich um Macros den Schwarzen rankten. Sie folgten dem Weg, der zur Burg führte.

Die Burg stand auf einer Klippe, die steil zum Meer abfiel und vom Rest der Insel durch eine tiefe Schlucht abgetrennt war. Das Getöse der Wellen in der Meerenge dröhnte zu ihnen hinauf, während sie langsam die heruntergelassene Zugbrücke überquerten. Die Burg war aus hier unbekanntem schwarzem Stein erbaut, und auf dem großen Bogen über den Falltor hockten seltsame Kreaturen aus Stein, die Tomas und Pug mit ihren toten Augen anstarrten, während sie unter ihnen hindurchgingen. Von außen sah die Burg genauso aus wie beim letzten Mal, als Pug hier gewesen war, doch drinnen war nicht zu übersehen, daß alles andere sich verändert hatte.

Während des letzten Besuches waren Burg und Innenhof gut in Schuß gewesen, doch jetzt wiesen die Steine des Fundamentes große Risse auf, aus denen Unkraut wuchs, und der Hof war übersät mit Vogelexkrementen und den Überresten ihrer Mahlzeiten. Sie eilten auf die großen Türen des Bergfrieds zu, die unverschlossen waren. Als sie sie aufstießen, bestätigte das Quietschen der Angeln ihren jämmerlichen Zustand. Pug führte seinen Freund durch die lange Halle und dann die Treppe des Turms hoch, bis sie zu der Tür von Macros' Studierzimmer kamen. Beim letzten Mal hatte er einen Zauber gebraucht und zusätzlich noch eine Frage in der Sprache der Tsurani beantworten müssen, um die Tür zu öffnen; jetzt genügte ein einfacher Stoß. Das Zimmer war leer.

Pug wandte sich um, und sie eilten die Treppe wieder hinunter, bis sie in den großen Saal der Burg kamen. Pug schrie: »Hallo, Burg!« Seine Stimme hallte hohl von den Wänden wider.

Tomas sagte: »Scheinbar sind alle gegangen.«

»Ich verstehe das nicht. Als ich mit Gathis gesprochen habe, sagte er, er würde hier wohnen, auf Macros' Rückkehr warten und das Haus solange in Ordnung halten. Ich habe ihn nur kurz kennengelernt, doch ich war mir sicher, er würde die Burg so erhalten, wie wir sie zuletzt gesehen haben ...«

»Solange er dazu imstande war«, sagte Tomas. »Vielleicht hatte jemand einen Grund, die Insel zu besuchen. Piraten oder queganische Räuber.«

»Oder Spione von Murmandamus?« Pug sackte sichtlich in sich zusammen. »Ich hatte gehofft, Gathis könnte uns einen Hinweis geben, wo wir unsere Suche nach Macros beginnen sollen.« Pug sah sich um und entdeckte vor der Mauer eine Steinbank. Indem er sich dort setzte, sagte er: »Wir wissen nicht einmal, ob Macros noch lebt. Wie sollen wir ihn da finden?«

Tomas stand vor seinem Freund und überragte ihn. Er setzte einen Fuß auf die Bank, beugte sich nach vorn und ließ die gekreuzten Arme auf dem Knie ruhen. »Es könnte genausogut sein, daß die Burg so verlassen ist, weil Macros inzwischen hier war und wieder gegangen ist.«

Pug sah auf. »Vielleicht. Es gibt da einen Zauberspruch ... einen Zauberspruch des Niedrigen Pfades.«

Tomas sagte: »Soviel ich von diesen Dingen verstehe -«

Pug unterbrach ihn: »Ich habe vieles in Elvardein gelernt. Laß ihn mich versuchen.« Er Schloß die Augen und beschwor den Spruch, und die Wörter sprudelten leise und mit tiefer Stimme aus ihm hervor, während er versuchte, seine Gedanken auf jenen Pfad zu lenken, der ihm noch immer sehr fremd war. Plötzlich schlug er die Augen auf. »Irgendwie liegt ein Zauber über dieser Burg. Die Steine - sie sind nicht richtig.«

Tomas sah Pug an, und in seinen Augen lag eine Frage. Pug erhob sich und berührte die Steine. »Ich habe einen Zauberspruch benutzt, der mich in den Wänden lesen läßt. Was auch immer in der Nähe eines Dinges erscheint, hinterläßt schwache Spuren, Kräfte, die auf das Ding einwirken. Mit etwas Geschick kann man das lesen wie die Schrift eines Gelehrten. Schwierig, aber möglich. Doch diese Steine zeigen gar nichts. Als wäre noch nie ein Lebewesen durch diesen Saal gegangen.« Auf einmal wandte sich Pug der Tür zu. »Komm!« befahl er.

Tomas holte seinen Freund ein, der hinausging und auf die Mitte des Hofes zusteuerte. Dort blieb Pug stehen und hob die Hände über den Kopf. Tomas spürte, wie sich über ihnen mächtige Energien formierten, während Pug Kraft sammelte. Dann schloß Pug die Augen und redete schnell in einer Sprache, die Tomas sowohl fremd als auch vertraut vorkam. Daraufhin öffnete Pug die Augen wieder und sagte: »Auf daß sich die Wahrheit enthülle.«

Als bewegte sich von Pug aus ein Beben in Wellen fort, begann sich die Umgebung zu verwandeln. Die Luft flimmerte, auf der einen Seite stand eine verlassene Burg, doch als das Beben nachließ, enthüllte sich vor ihnen ein wohlgepflegter Hof. Der Kreis der Veränderungen erweiterte sich, die Illusion löste sich auf, und mit einem Mal sah Tomas, daß sie sich auf einem ganz normalen Burghof befanden. Neben ihnen trug eine Kreatur ein Bündel Feuerholz. Sie blieb stehen, und auf ihrem nichtmenschlichen Gesicht zeichnete sich Überraschung ab. Die Kreatur ließ das Bündel fallen.

Tomas wollte schon sein Schwert ziehen, doch Pug legte ihm die Hand auf den Arm und sagte: »Nein.«

»Aber es ist ein Bergtroll!«

»Gathis hat uns erzählt, daß Macros viele Diener hat und jeden nach seinen Fähigkeiten bewertet.«

Die entsetzte Kreatur - breite Schultern, lange Reißzähne und ängstlich in der Erscheinung - drehte sich um und rannte gebückt wie ein Affe auf eine Tür in der Außenmauer zu. Aus dem Stall trat eine andere Kreatur, wie sie noch kein Mensch zuvor gesehen hatte, und blieb stehen. Sie war nur drei Fuß groß und hatte ein Maul wie ein Bär, doch das Fell war rotgolden. Als das Wesen die beiden Menschen sah, legte es den Besen, den es trug, beiseite und schob sich langsam rückwärts wieder in den Stall. Pug beobachtete es, bis es verschwunden war. Er bildete mit den Händen einen Trichter vor dem Mund und rief: »Gathis!«

Fast augenblicklich öffnete sich die Tür zur großen Halle, und eine gutgekleidete, einem Goblin ähnliche Kreatur erschien. Der Kerl war größer als ein Goblin, besaß zwar die typischen dicken Augenwülste und die große Nase dieses Volkes, doch seine Gesichtszüge waren edler und seine Bewegungen graziöser. Bekleidet war er mit einem blauen ärmellosen Hemd, blauen Gamaschen, einem gelben Wams und schwarzen Stiefeln. Er eilte die Stufen hinunter und verbeugte sich vor den beiden Männern. Mit zischender Aussprache sagte er: »Willkommen, Meister Pug.« Er betrachtete Tomas. »Und das wird wohl Meister Tomas sein?«

Tomas und Pug wechselten einen Blick. Dann sagte Pug: »Wir suchen deinen Meister.«

Gathis wirkte beunruhigt. »Das wird sich als Problem erweisen, Meister Pug. Soweit ich in Erfahrung bringen konnte, existiert Macros nicht mehr.«

 

Pug nippte an seinem Wein. Gathis hatte sie in eines der Zimmer geführt und ihnen Erfrischungen angeboten. Der Haushofmeister der Burg schlug das Angebot, sich zu setzen, aus und stand den beiden Männer gegenüber, die sich seine Geschichte anhörten.

»Wie ich Euch schon beim letzten Mal sagte, Meister Pug, besteht zwischen dem Schwarzen und mir eine Art Verständigung. Ich kann sozusagen seinen ... Zustand des Seins fühlen. Irgendwie weiß ich immer, er ist dort draußen, irgendwo. Ungefähr einen Monat, nachdem Ihr uns verlassen habt, wachte ich mitten in der Nacht auf und spürte, dieser ... Kontakt war nicht mehr da. Es war ausgesprochen beunruhigend.«

»Dann ist Macros also tot«, sagte Tomas.

Gathis seufzte auf recht menschliche Weise. »Ich fürchte schon. Wenn nicht, ist er an einem so fremden und entfernten Ort, daß es wenig Unterschied macht.«

Pug dachte schweigend nach, während Tomas fragte: »Und wer hat dann diese Illusion erzeugt?«

»Mein Meister. Ich habe sie nur in Kraft gesetzt, nachdem Ihr und Eure Gefährten die Burg nach Eurem letzten Besuch verlassen haben. Er hielt es für notwendig, uns mit dieser ›schützenden Färbung‹ , wie er es nannte, auszustatten, wenn er nicht da war und unsere Sicherheit garantieren konnte. Zweimal haben inzwischen Piraten die Insel nach Beute durchkämmt. Sie haben nichts gefunden.«

Pug hob plötzlich den Kopf. »Dann existiert die Villa doch noch?«

»Ja, Meister Pug. Sie wurde ebenfalls durch die Illusion verborgen.« Gathis schien sich ernsthaft Sorgen zu machen. »Ich muß zugeben, obwohl ich mich in diesen Dingen nicht auskenne, glaubte ich, auch Ihr könntet diesen Illusionszauber nicht vertreiben.« Wieder seufzte er. »Jetzt habe ich allerlei Bedenken, was werden wird, wenn Ihr wieder abreist.«

Pug wischte die Bemerkung mit einer Handbewegung vom Tisch. »Ich werde ihn wieder in Kraft setzen, bevor wir gehen.« Irgendein Gedanke bohrte in seinem Kopf, ein seltsames Bild von seinem Gespräch mit Macros damals in der Villa. »Als ich Macros fragte, ob er in der Villa lebt, sagte er: ›Nein, obwohl ich das vor langer Zeit getan habe.‹ « Er sah Gathis an. »Hatte er dort ein Studierzimmer, so eins wie hier im Turm?«

Gathis antwortete: »Ja, vor langer, langer Zeit, ehe ich an diesen Ort kam.«

Pug stand auf. »Dort müssen wir hingehen.«

 

Gathis führte sie den Pfad entlang in das Tal. Das rote Ziegeldach war noch genauso, wie Pug es in Erinnerung hatte. Tomas sagte: »Das ist ein seltsamer Ort, obwohl er auf der anderen Seite auch sehr schön ist. Bei gutem Wetter wäre es sicherlich ein angenehmes Heim.«

»Das hat mein Meister auch einst gedacht«, sagte Gathis. »Doch er hat ihn schon lange verlassen, wie er mir erzählte. Und als er wieder herkam, war die Villa zerfallen, und die, die hier gelebt hatten, waren ohne Erklärung gegangen. Zunächst suchte er nach seinen Gefährten, doch dann gab er die Hoffnung auf, jemals etwas über ihr Schicksal zu erfahren. Schließlich fürchtete er um die Sicherheit seiner Bücher und der anderen Werke, genauso wie um das Leben seiner Diener, die er hierherbringen wollte, und deshalb baute er die Burg. Und setzte andere Mittel ein«, fügte er kichernd hinzu.

»Die Legende von Macros dem Schwarzen.«

»Der Schrecken vor der dunklen Magie schützt oftmals besser als die dicksten Mauern, Meister Pug. Der Aufwand war nicht gering: Diese ziemlich sonnige Insel mußte in düstere Wolken gehüllt werden, und wenn sich ein Schiff näherte, mußte jedes Mal das höllische blaue Licht auf dem höchsten Turm blinken. Es war ganz schön lästig.«

Sie betraten den Hof der Villa, der von einer niedrigen Mauer umgeben war. Pug blieb stehen, betrachtete den Brunnen, wo sich drei Delphine aus einer Säule erhoben, und sagte: »Ich habe das Muster in meinem Teleportraum nach diesem Brunnen entworfen.« Gathis führte sie ins Hauptgebäude, und mit einem Mal verstand Pug. Die verbindenden Gänge und das Dach fehlten, doch diese Villa entsprach im Grundriß genau seiner eigenen auf Kelewan. Beide Häuser waren haargenau gleich. Pug hielt inne und wirkte ziemlich erschüttert.

Tomas fragte: »Was ist los?«

»Es scheint, als hätte Macros weit mehr Einfluß, als wir ahnen. Ich habe mein Haus auf Kelewan nach dem Vorbild von diesem gebaut, und zwar, ohne es zu wissen. Ich glaube, ich hatte kaum eine Wahl. Kommt, ich werde euch zeigen, wo das Studierzimmer lag.« Er führte sie direkt in das Zimmer, welches sich an der gleichen Stelle wie sein eigenes Studierzimmer befand. Anstelle einer tuchbezogenen Schiebetür standen sie vor einer Tür aus Holz, doch Gathis nickte.

Pug öffnete die Tür und trat ein. Das Zimmer entsprach in Größe und Grundriß genau dem seinen. Dort, wo Pug in seinem Zimmer einen niedrigen Tisch und ein Sitzkissen piaziert hatte, standen hier ein staubbedecktes Schreibpult und ein Stuhl. Pug lachte und schüttelte gleichsam vor Anerkennung und vor Verwunderung den Kopf. »Der Zauberer kannte viele Tricks.« Er ging zu einer kleinen Feuerstelle. Dort zog er an einem Stein und legte eine winzige Nische frei. »Ich habe so etwas auch in meinem Kamin, obwohl ich eigentlich nie wußte, warum. Ich hatte keinen Grund, es zu benutzen.« In der Nische lag ein zusammengerolltes Pergament. Pug nahm es heraus und untersuchte es. Die Rolle war nicht versiegelt und wurde nur von einem Band zusammengehalten.

Er entrollte das Pergament und las; sein Gesicht wurde lebendig. »Oh, dieser schlaue Mann!« sagte er. Er wandte sich an Tomas und Gathis und erklärte. »Es ist in der Sprache der Tsurani verfaßt. Selbst wenn der Illusionszauber aufgehoben worden, jemand in diesen Raum gestolpert wäre und diese Nische mit dem Pergament gefunden hätte, wäre es so gut wie ausgeschlossen gewesen, daß er es hätte lesen können.« Er sah wieder auf das Pergament und las laut vor. »›Pug, wenn Ihr das hier lest, bin ich wahrscheinlich schon tot. Falls nicht, halte ich mich jenseits der normalen Grenzen von Zeit und Raum auf. In beiden Fällen ist es mir nicht möglich, Euch jene Hilfe zu bieten, die Ihr sucht. Ihr habt etwas über die Natur des Feindes in Erfahrung gebracht, und Ihr wißt, daß er sowohl Midkemia als auch Kelewan bedroht. Sucht mich zuerst in den Hallen der Toten. Bin ich nicht dort, dann lebe ich noch. Falls ich noch lebe, werde ich an einem schwer zu findenden Ort gefangengehalten. Dann müßt Ihr eine Entscheidung treffen: Entweder strebt Ihr danach, auf eigene Faust mehr über den Feind in Erfahrung zu bringen, was sicherlich der gefährlichste Weg ist - den Ihr jedoch erfolgreich beschreiten könnt -, oder Ihr sucht nach mir. Wie auch immer Ihr Euch entscheidet, ich wünsche Euch den Segen der Götter. Macros. ‹ «

Pug legte die Rolle zur Seite. »Ich hatte auf mehr gehofft.« Gathis sagte: »Mein Meister war ein Mann der Macht, doch auch er hatte seine Grenzen. Wie er schon in dem letzten Schreiben kundtat, konnte er den Schleier der Zeit nicht mehr durchstoßen, nachdem er mit Euch in den Spalt eingedrungen war. Von dem Moment an war die Zeit für ihn genauso undurchsichtig wie für andere Menschen. Er konnte nur noch Vermutungen äußern.«

Tomas sagte: »Also müssen wir zu den Hallen der Toten aufbrechen.«

Pug entgegnete: »Aber wo werden wir die finden?«

»Wartet«, sagte Gathis. »Jenseits der Endlosen See liegt der südliche Kontinent, den die Menschen Novindus nennen. Vorn Norden bis zum Süden verläuft ein riesiges Gebirge, das in der Sprache der Menschen dort Ratrigari heißt, was soviel wie ›Pavillon der Götter‹ bedeutet. Auf den beiden höchsten Gipfeln, den Säulen des Himmels, steht die Himmlische Stadt, wie die Menschen sagen, das Heim der Götter. Unterhalb dieser Gipfel in den Ausläufern der Berge liegt die Nekropolis, die Stadt der Toten Götter. Im höchstgelegenen Tempel, der sich direkt an den Fuß der Berge schmiegt, werden die vier verlorenen Götter verehrt. Dort findet Ihr einen unterirdischen Gang in das Innere der Himmelsberge. Das ist der Eingang zu den Hallen der Toten.«

Pug dachte nach. »Wir sollten eine Nacht schlafen, dann Ryath rufen und die Endlose See überqueren.«

Tomas drehte sich ohne Kommentar um und machte sich auf den Weg zurück zu Macros' Burg. Sie brauchten keine weiteren Worte zu verlieren. Schließlich hatten sie keine Wahl. Der Zauberer hatte ihnen in seiner Sorgfalt keine gelassen.

 

Ryath landete. Vier Stunden lang waren sie schneller geflogen, als Pug es für möglich gehalten hatte. Die Endlose See hatte unter ihnen getost, ein unermeßlicher Ozean von scheinbar nicht bezwingbarer Größe. Doch der Drache hatte keinen Moment gezögert und das Ziel akzeptiert. Jetzt, Stunden später, flogen sie über einen Kontinent auf der anderen Seite der Welt. Sie waren vom Osten in den Westen gelangt und hatten gleichzeitig die südliche Hemisphäre erreicht. Am späten Nachmittag war der südliche Kontinent, Novindus, in Sicht gekommen. Zuerst hatten sie eine große Sandwüste überquert, die an der Küste über Hunderte von Meilen von hohen Klippen begrenzt wurde. Jemand, der mit einem Schiff an dieser nördlichen Küste landete, müßte tagelange Reisen und gefährliche Klettereien hinter sich bringen, bis er Trinkwasser finden würde. Dann war der Drache über Prärien hinweggeschossen. Weiter unter ihnen waren Hunderte von eigentümlichen Wagen unterwegs gewesen, die, von Rinder-, Schaf- und Pferdeherden begleitet, aus dem Norden in den Süden zogen. Verschiedene nomadische Hirtenvölker folgten den Spuren ihrer Vorfahren, ohne den Drachen über sich zu bemerken.

Dann sahen sie die erste Stadt. Ein mächtiger Fluß, der Pug an den Gagajin in Kelewan erinnerte, hatte sich seinen Weg durch die Prärien gesucht. An seinem südlichen Ufer war eine Stadt erbaut worden, und im Süden davon entdeckten sie Ackerland. Weit entfernt im Südwesten erhob sich im Dunst des Abends eine Gebirgskette: der Pavillon der Götter.

Ryath begann zu sinken, und bald näherten sie sich der Mitte der Gebirgskette, zwei Gipfel, die hoch über die anderen hinaus in die Wolken ragten: die Säulen des Himmels. Am Fuß dieser Berge verbargen weite Wälder alles, was dort leben mochte. Der Drache brauchte einige Minuten, bis er eine Lichtung fand, auf der er landen konnte.

Schließlich setzte Ryath auf und sagte: »So werde ich mich nun der Jagd widmen. Und habe ich die beendet, sollte ich mich dem Schlaf hingeben. Ruhen muß ich eine Weile.«

Tomas lächelte. »Du wirst für diese Reise nicht gebraucht. Von dem Ort, an den wir uns vorwagen, werden wir vielleicht nicht zurückkehren, und dann hättest du Schwierigkeiten, uns zu finden.«

Der Drache zeigte bei der letzten Bemerkung eine gewisse Belustigung. »Habt Ihr denn den Sinn für die Dinge verloren, Valheru? Erinnert Ihr Euch nicht? Gibt es auf dieser Welt einen Ort, den ich nicht erreichen kann?«

»Dieser Ort überfordert selbst deine Fähigkeiten, Ryath. Wir werden die Hallen der Toten betreten.«

»Somit werdet Ihr Euch gewißlich jenseits meiner Kräfte, Euch zu finden, aufhalten, Tomas. Dennoch, überlebt Ihr und Euer Freund diese Reise und kehrt zurück in das Reich der Lebenden, braucht Ihr nur nach mir zu rufen, und ich komme. Jaget gut, Valheru. Und so will ich es denn auch tun.« Der Drache erhob sich, breitete die Flügel aus, und mit einem Sprung und einem Flügelschlag startete Ryath in den dunkel werdenden Himmel.

Tomas merkte noch an: »Ryath ist müde. Drachen jagen normalerweise Wild, doch ich schätze, morgen wird irgendein Bauer zwei seiner Kühe oder Schafe vermissen. Und Ryath wird mit vollem Bauch tagelang schlafen.«

Pug sah sich in der zunehmenden Dunkelheit um. »In unserer Eile haben wir uns überhaupt nicht um Proviant für uns selbst gekümmert.«

Tomas setzte sich auf einen umgestürzten Baumstamm. »Solche einfachen Dinge tauchten in den Sagen, die man dir in deiner Jugend erzählt hat, nie auf.«

Pug warf seinem Freund einen fragenden Blick zu, und Tomas sagte: »Erinnerst du dich noch an die Wälder von Crydee, wo wir uns als Jungen immer herumgetrieben haben?« Fröhlich strahlte er ihn an. »In unseren jugendlichen Abenteuern haben wir den Feind immer rechtzeitig besiegt, um zum Abendessen zu Hause sein zu können.«

Pug setzte sich neben seinen Freund. Er kicherte und sagte: »Daran kann ich mich noch erinnern. Du hast immer den gefallenen Helden in einer tragischen Schlacht gespielt.«

Tomas' Stimme verriet Nachdenklichkeit. »Nur diesmal können wir nicht einfach, nachdem wir getötet wurden, in Mutters Küche zurückkehren, wo uns ein warmes Essen erwartet.«

Die Zeit verstrich. Dann sagte Pug: »Trotzdem können wir es uns so bequem wie möglich machen. Diese Stelle ist wahrscheinlich genausogut wie jede andere, um auf die Dämmerung zu warten. Vermutlich ist die Nekropolis überwuchert, sonst hätten wir sie aus der Luft gesehen. Morgen werden wir sie besser finden können.« Und mit einem schwachen Lächeln fügte er hinzu: »Außerdem ist Ryath nicht die einzige, die müde ist.«

»Schlaf nur, wenn du das brauchst.« Tomas' Augen klebten auf einem Punkt im Gebüsch fest. »Ich habe gelernt, diese Bedürfnisse mit dem Willen zu unterdrücken.« Sein Gesichtsausdruck brachte Pug dazu, den Kopf zu drehen und Tomas' Blick zu folgen. In der Dunkelheit bewegte sich etwas.

Dann erscholl plötzlich im Wald hinter ihnen Gebrüll, und im nächsten Moment sprang etwas oder jemand aus dem Unterholz Tomas in den Rücken.

Das Gebrüll wurde von einen Dutzend anderer Kehlen erwidert. Pug fuhr hoch, während Tomas durch den Aufprall des Wesens auf seinem Rücken nach vorn geworfen wurde. Während die Kreatur ungefähr die gleiche Größe wie Tomas zu haben schien, fand der Valheru in seiner Stärke unter den Sterblichen in Midkemia kaum seinesgleichen. Tomas stand einfach auf und griff sich das Ding am pelzigen Nacken. Mit einen Ruck schleuderte er es wie ein Kind über den Kopf und ließ es auf eine andere Kreatur krachen, die auf ihn zurannte.

Pug schlug die Hände über dem Kopf zusammen, und die Lichtung hallte wider vom Donner, in dessen Zentrum Pug stand. Man hätte taub werden können. Blendendes Licht erstrahlte aus Pugs erhobenen Händen, und diejenigen, die Tomas und Pug umringten, erstarrten.

Sie sahen aus wie Tiger, doch ihre Körper hatten die Gestalt von Menschen. Ihre Köpfe waren orangefarben und hatten schwarze Streifen, ebenso die Arme und Beine. Sie trugen Brustharnische aus einem blauen Metall und Lendenschurze aus blauschwarzem Material, dazu kurze Schwerter und Messer.

Sie duckten sich vor dem grellen Licht, von Pugs Magie geblendet. Rasch beschwor er einen weiteren Zauber, und die Tigermenschen kippten um. Pug taumelte ein wenig und holte tief Luft, während er sich auf den Baumstamm sinken ließ. »Das war fast zu viel. Dieser Schlafzauber birgt so viele ...«

Tomas hörte ihm nur halb zu. Er hatte sein Schwert gezogen und hielt seinen Schild zur Verteidigung bereit. »Da sind noch mehr im Wald.«

Pug schüttelte seine Benommenheit ab und erhob sich. In dem sie umgebenden Wald rauschten die Zweige so leise, als würde sie ein leichter Wind bewegen, doch heute nacht regte sich kein Lüftchen. Dann traten ein Dutzend Gestalten wie ein Mann aus der Dunkelheit; alle glichen den gefallenen. Einer von ihnen sagte undeutlich und schleppend: »Legt die Waffen nieder. Ihr seid umzingelt.« Die anderen sahen so aus, als hätten sie sich wie die riesigen Katzen, an die sie erinnerten, zum Sprung geduckt.

Tomas sah zu Pug hinüber, der nickte. Daraufhin erlaubte Tomas einem der Tigermänner, ihn zu entwaffnen. Der Anführer deutete auf sie und sagte: »Bindet sie.«

Tomas gestattete den Tigermännern, ihn zu binden, ebenso Pug. Der Anführer sagte: »Ihr habt viele meiner Krieger erschlagen.«

Pug sagte: »Sie schlafen nur.«

Einer der Tigerkrieger kniete sieh hin und untersuchte einen der Schlafenden. »Tuan, das stimmt.«

Derjenige, der Tuan genannt wurde, betrachtete eingehend Pugs Gesicht. »Ihr seid ein Zauberer, scheint es, und trotzdem erlaubt Ihr uns, Euch so leicht gefangenzunehmen. Warum?«

Pug sagte: »Neugier. Und wir wollten euch nicht verletzen.«

Die umstehenden Tigermänner begannen zu lachen, zumindest taten sie so etwas Ähnliches. Daraufhin löste Tomas einfach seine Handgelenke voneinander. Die Fesseln rissen augenblicklich. Er streckte die Hand in Richtung des Kriegers aus, der sein goldenes Schwert hielt, und die Waffe schwebte aus der Hand der entsetzten Kreatur in seine eigene zurück. Das Gelächter erstarb.

In seiner Wut fauchte derjenige, der Tuan hieß, krümmte die Finger, fuhr die Krallen aus und schlug mit seiner Klaue nach Pugs Gesicht. Pug hob die Hand, und auf seiner Handfläche erstrahlte ein kleines goldenes Licht. Die Klauen der Kreatur prallten von dem Licht ab wie von Stahl.

Die Kreaturen umringten die beiden Männer wieder, und zwei faßten Tomas von hinten. Er stieß sie einfach zur Seite und packte den, der Tuan hieß, am Genick. Tuan war größer als sechs Fuß, doch Tomas hob ihn ohne Anstrengung in die Höhe. Wie jede Katze, die man am Genick hielt, hing er hilflos da. »Haltet ein, oder er stirbt!« schrie Tomas.

Die Kreaturen zögerten. Dann ging einer der Tigerkrieger vor ihm auf die Knie. Die anderen folgten. Der Anführer der Tigermänner landete sanft auf dem Boden und drehte sich herum: »Was für ein Wesen seid Ihr?«

»Ich bin Tomas und wurde einst Ashen-Shugar, Herrscher des Adlerreichs, genannt. Ich bin einer der Valheru.«

Bei diesen Worten machten die Tigermänner leise maunzende Geräusche, halb knurrend, halb wimmernd. »Uralter!« wurde einige Male wiederholt. Sie drängten sich vor Schreck eng aneinander.

Pug fragte: »Was bedeutet das? Und was sind das für Kreaturen?«

Tomas erklärte: »Sie fürchten sich vor mir, denn ich bin für sie eine Legende, die zum Leben erwacht ist. Sie sind die Kreaturen von Draken-Korin.« Als er Pugs Unverständnis bemerkte, fügte er hinzu. »Einer der Valheru. Er war der Herr der Tiger und schuf diese Wesen, damit sie seinen Palast bewachten.« Er sah sich um. »Ich glaube, er muß sich in einer der Höhlen in diesem Wald befinden.« An Tuan gewandt, fragte er: »Liegt ihr mit den Menschen im Krieg?«

Tuan, der sich immer noch vor ihm duckte, fletschte die Zähne. »Wir liegen mit allen im Streit, die in unseren Wald eindringen, Uralter. Das hier ist unser Land, wie Ihr wissen solltet. Ihr wart es, der unserem Volk die Freiheit gegeben hat.«

Tomas kniff die Augen zusammen, dann riß er sie weit auf. »Ich... ich erinnere mich.« Sein Gesicht wurde blaß. Zu Pug sagte er: »Ich dachte, ich hätte mich schon an alles aus diesen alten Zeiten erinnert ...«

Tuan sagte: »Wir haben Euch für Menschen gehalten. Der Rana von Maharta führt Krieg gegen den Priesterkönig von Lanada. Seine Kriegselefanten beherrschen die Ebenen, doch die Wälder sind noch immer in unseren Händen. In diesem Jahr hat er sich mit dem Oberherrn der Stadt am Schlangenfluß verbündet, der ihm Soldaten stellt. Also töten wir jeden, der hierherkommt, Menschen, Zwerge, Goblins, Schlangenmenschen.«

Pug sagte: »Pantathianer!«

Tuan entgegnete: »So nennen die Menschen sie. Das Land der Schlangen liegt irgendwo im Süden, doch sie kommen in den Norden und richten großes Unheil an. Wir gehen ohne Gnade gegen sie vor.« An Tomas gewandt, fragte er: »Seid Ihr gekommen, um uns abermals zu versklaven, Uralter?«

Tomas erwachte aus seinen Tagträumen. »Nein, diese Zeiten gehören für immer der Vergangenheit an. Wir suchen die Hallen der Toten, die sich in der Stadt der Toten Götter befinden. Führt uns.«

Tuan verscheuchte seine Krieger mit einer Handbewegung.

»Ich werde Euch führen.« Zu den anderen sagte er etwas in einer kehligen, knurrenden Sprache. Kurz danach waren sie in der Dunkelheit zwischen den Bäumen verschwunden. Als alle gegangen waren, sagte er: »Kommt, wir haben einen weiten Weg vor uns.«

 

Tuan führte sie durch die Nacht, und während sie unterwegs waren, stellte Pug ihm viele Fragen. Zunächst widerstrebte es dem Tigermann, sich mit dem Zauberer zu unterhalten, doch Tomas befahl dem Anführer, er solle die Antworten nicht verweigern, und daran hielt sich Tuan. Das Volk der Tigermenschen lebte in einer kleinen Stadt, östlich von der Stelle, wo der Drache gelandet war. Drachen waren den Tigern seit langer Zeit verhaßt, weil sie die Viehherden angriffen. So war ein Trupp, der den Drachen verscheuchen sollte, auf den Weg geschickt worden.

Ihre Stadt hatte keinen Namen, da sie die einzige Stadt der Tiger war. Bisher hatte noch nie ein Mensch die Stadt betreten und lebend wieder verlassen, da die Tiger alle Eindringlinge töteten. Tuan zeigte den Menschen gegenüber großes Mißtrauen, und danach befragt, sagte er nur: »Wir waren vor den Menschen hier. Doch sie haben uns unsere östlichen Wälder genommen. Wir haben trotzdem widerstanden. Zwischen uns und den Menschen hat es immer Krieg gegeben.«

Von den Pantathianern wußte Tuan nur wenig, außer daß sie alles töteten, was ihnen unter die Augen kam. Als Pug wissen wollte, wie die Tigermenschen entstanden waren und wie Tomas sie befreit hatte, war Schweigen die einzige Antwort. Da sich Tomas ähnlich zurückhielt, bohrte Pug nicht weiter.

Sie waren die bewaldeten Berge unter den Säulen des Himmels hinaufgeklettert und erreichten nun einen steilen Paß. Tuan blieb stehen. Im Osten zog das Grau der Dämmerung auf. »Hier leben die Götter«, sagte er. Sie sahen nach oben. Die Spitzen der Berge fingen die ersten Sonnenstrahlen ein. Weiße Wolken verhüllten die Gipfel der Säulen des Himmels wie leuchtender Nebel, der das Licht in weißen und silbernen Funken widerspiegelte.

»Wie hoch sind diese Gipfel?« fragte Pug.

»Das weiß niemand. Noch nie hat sie ein Sterblicher erreicht. Wir erlauben den Pilgern, daß sie in Frieden dorthin ziehen, wenn sie sich südlich unserer Grenzen halten. Jene, die hinaufklettern, kehren nicht zurück. Die Götter bevorzugen ihre Abgeschiedenheit. Kommt.«

Er brachte sie zu einem Paß, der in eine Schlucht hinunterführte. »Jenseits dieses Passes weitet sich diese Schlucht zu einer großen Ebene am Fuß der Berge. Dort liegt die Stadt der Toten Götter. Sie ist heutzutage mit Bäumen und Kletterpflanzen überwuchert. In der Stadt gibt es einen großen Tempel für die verlorenen Götter. Jenseits davon ist der Wohnsitz der Dahingegangenen. Ich werde nicht mehr weitergehen, Uralter. Ihr und der Zauberer mögt überleben, doch für einen Sterblichen ist das eine Reise ohne Wiederkehr. Wer die Hallen der Toten betritt, verläßt das Land der Lebenden.«

Tomas sagte: »Wir brauchen dich nicht länger. Gehe in Frieden.«

»Viel Glück auf der Jagd, Uralter.« Tuan machte sich mit schnellen festen Schritten davon.

Schweigend betraten Tomas und Pug die Schlucht.

 

Pug und Tomas gingen langsam über den Platz. Pug machte sich im Geiste Notizen von diesen wunderlichen Dingen. Seltsam geformte Gebäude - sechseckige, fünfeckige, rauten- und pyramidenförmige - waren in einem offensichtlich wirren Muster aneinander gefügt worden, trotzdem schien die Anordnung fast Sinn zu machen, als wäre der Betrachter einfach nicht klug genug, das Muster zu erkennen. Obelisken unüblicher Machart, hoch aufragende Säulen aus Pechkohle und Ebenholz, die mit Inschriften versehen waren, deren Runen Pug unbekannt waren, standen an den vier Ecken des Platzes. Es war eine Stadt, eine Stadt jedoch, in der weder eine Schenke noch eine einfache Hütte einen Menschen zum Verweilen einluden. Egal, in welche Richtung man sich wandte, überall erhoben sich nur Grabmäler. Und auf jedem war über dem Eingang ein Name eingemeißelt.

»Wer mag diesen Ort erbaut haben?« fragte sich Pug laut.

»Die Götter«, erwiderte Tomas. Pug betrachtete seinen Gefährten und bemerkte keinen Scherz in seinen Worten.

»Kann das wirklich so sein?«

Tomas zuckte mit den Schultern. »Selbst für Menschen wie uns bleiben manche Dinge immer ein Geheimnis. Irgendeine Kraft hat diese Grabmäler gebaut.« Er zeigte auf eins der größten Gebäude im Bereich des Platzes. »Jenes trägt den Namen Isanda.« Tomas schien in Gedanken versunken zu sein. »Als sich mein Geschlecht gegen die Götter erhob, blieb ich allein.« Pug entging nicht, daß Tomas von seinem Geschlecht sprach; in der Vergangenheit hatte er immer den Namen Ashen-Shugar benutzt. Tomas fuhr fort: »Die Götter waren damals noch jung, erlangten gerade ihre Macht, während die Valheru schon uralt waren. Eine alte Art ging dahin, und eine neue wurde geboren. Doch die Götter waren voller Kraft, zumindest jene, die überlebten. Von den hundert, die Ishap geschaffen hatte, blieben nur sechzehn, die zwölf niedrigeren und die vier großen. Die anderen liegen hier.« Er zeigte noch einmal auf das Gebäude. »Isanda war die Göttin des Tanzes.« Langsam sah er sich um. »Es war die Zeit der Chaotischen Kriege.«

Tomas ging an Pug vorbei und wollte augenscheinlich nicht weiter darüber reden. Auf einem anderen Gebäude war der Name Onanka-Tith eingraviert. Pug fragte: »Wie erklärst du dir das hier?«

Tomas sprach leise, während er weiterging. »Der Frohe Krieger und der Denker der Schlachten waren beide tödlich verwundet, doch indem sie das von ihnen Verbliebene zusammentaten überlebten sie als ein neues Wesen, Tith-Onanka, der Kriegsgott mit den zwei Gesichtern. Hier liegen die Teile von beiden, die nicht überlebt haben.«

Leise bemerkte Pug: »Jedes Mal, wenn ich Zeuge eines so unübertrefflichen Wunders werde, fühle ich mich so ... winzig.«

Nachdem sie lange geschwiegen hatten und an einem weiteren Dutzend Gebäude vorbeigegangen waren, auf denen für Pug unbekannte Namen standen, sagte der Zauberer: »Wieso können die Unsterblichen sterben, Tomas?«

Tomas blickte seinen Freund nicht an, während er sprach. »Nichts währt ewig, Pug.« Dann sah er Pug an, der einen seltsamen Glanz in den Augen seines Gefährten entdeckte, als sei dieser zum Kampf bereit. »Nichts. Unsterblichkeit, Macht, Herrschaft, alles nur Illusionen. Verstehst du nicht? Wir sind nur die Bauern in einem Schachspiel, das wir nicht begreifen.«

Pug ließ seinen Blick durch die uralte Stadt schweifen und betrachtete die seltsame Ansammlung von Gebäuden, die halb mit Lianen überwachsen waren. »Deshalb fühle ich mich ja so klein.«

»Nein, wir müssen nur jemanden finden, der dieses Spiel versteht. Macros.« Er zeigte auf ein riesiges Gebäude, das die anderen wie Zwerge dastehen ließ. Darauf waren vier Namen eingemeißelt: Sarig, Drusala, Eortis und Wodar-Hospur. Tomas sagte: »Das ist das Grabmal der verlorenen Götter.« Nacheinander deutete er auf jeden Namen. »Der verlorene Gott der Magie, der, wie berichtet wird, seine Geheimnisse verbarg, bevor er verschwand. Das könnte der Grund sein, weshalb die Menschen auf dieser Welt nur des Niedrigen Pfades mächtig sind. Drusala, die Göttin der Heilkunst, deren gefallenen Stab Sung aufhob und ihn bis zu dem Tag verwahrt, an dem ihre Schwester zurückkehrt: Eortis, der Delphinschwänzige, der wahre Gott des Meeres. Jetzt herrscht Kilian über sein Reich. Sie ist die Mutter der Natur. Und Wodar-Hospur, der Gott der Weisheit, der von allen Wesen unter Ishap als einziger die Wahrheit kannte.«

»Tomas, woher weißt du das alles?«

Er sah seinen Freund an und sagte: »Ich erinnere mich daran. Ich habe mich damals nicht erhoben, die Götter herauszufordern, Pug, aber ich war da. Ich sah alles. Und ich erinnere mich daran.« In seiner Stimme schwang schrecklicher, bitterer Schmerz mit, den er vor seinem langjährigen Freund nicht verbergen konnte.

Sie gingen weiter, und Pug wußte, daß Tomas ihm nichts mehr über diese Dinge erzählen würde, zumindest im Augenblick nicht. Tomas führte Pug in die unermeßlich große Halle der vier verlorenen Götter. Ein schwaches Licht erhellte den Tempel und ließ die Wände des riesigen Raumes bernsteinfarben erglühen. Bis zur hohen gewölbten Decke hinauf war nirgends ein Schatten zu sehen. An jeder Wand der Halle wartete ein gigantischer, leerer Thron. Gegenüber dem Eingang führte eine weit ausgedehnte Höhle in die Dunkelheit. Tomas deutete auf den schwarzen Schlund und sagte: »Die Hallen der Toten.«

Ohne zu antworten, ging Pug los, und bald waren beide von Dunkelheit umgeben.

 

Im einen Moment waren sie noch in einer realen, wenn auch seltsamen Welt gewesen, im nächsten hatten sie das Reich des Geistes betreten. Als hätte sie eine nicht auszuhaltende Kälte erfaßt, fühlten sie erst eine große Unbehaglichkeit, dann eine Art Verzückung. Erst danach hatten sie die eigentlichen Hallen der Toten wirklich betreten.

Formen und Entfernungen schienen wenig Bedeutung zu haben, denn in einem Augenblick befanden sie sich auf einem schmalen Gang, im nächsten auf einer sonnenbeschienenen weiten Wiese. Dann kamen sie durch einen Garten mit murmelnden Bächen und obstüberladenen Bäumen. Daraufhin gingen sie über einen vereisten Fluß, der wie ein Wasserfall eine Klippe hinunterführte, und darüber erhob sich eine riesige Halle, aus der fröhliche Musik ertönte. Dann wieder schienen sie über Wolken zu gehen. Schließlich fanden sie sich in einer unermeßlichen Höhle wieder, und uralte Steine wölbten sich in eine Dunkelheit hinein, die niemandes Auge durchdringen konnte. Pug fuhr mit der Hand über die Felsen und stellte fest, daß die Oberfläche so schmierig wie Speckstein war. Doch als er Daumen und Finger aneinander rieb, gab es keinen Rückstand. Pug verdrängte seine Neugier. Vor ihnen floß langsam ein breiter Strom und hinderte sie am Fortkommen. In der Ferne konnten sie durch dichten Dunst das andere Ufer erkennen. Aus dem Nebel tauchte ein Fährboot auf, am Heck stand eine verhüllte Gestalt und ruderte. Als das Boot sanft auf das Ufer auflief, holte die Gestalt das Ruder aus dem Wasser und winkte Pug und Tomas an Bord.

»Der Fährmann?« fragte Pug.

»Er ist eine weitverbreitete Legende. Zumindest hier ist sie wahr. Komm.«

Sie gingen an Bord, und die Gestalt reckte ihnen eine knochige Hand entgegen. Pug holte zwei Kupfermünzen aus seinem Geldbeutel und legte sie in die Hand. Als er sich setzte, staunte er: Das Fährboot hatte sich selbst gewendet und trieb nun durch den Fluß. Er hatte keine Bewegung gespürt. Ein Geräusch hinter ihnen veranlaßte ihn, sich umzudrehen, und über seine Schulter sah er schwache Schatten an dem Ufer, das sie gerade verlassen hatten. Die Schatten verschwanden schnell im Nebel.

Tomas sagte: »Das sind jene, die Angst vor der Überfahrt haben oder den Fährmann nicht bezahlen können. Sie müssen bis in alle Ewigkeit am diesseitigen Ufer hausen, so wird es zumindest überliefert.« Pug konnte nur nicken. Er sah in den Fluß und war erneut erstaunt, daß das Wasser schwach glühte, wie von einem gelbgrünen Licht erleuchtet. In der Tiefe erkannte er Gestalten, die zu dem Boot hochsahen, das über sie hinwegglitt. Schwach winkten sie dem Kahn zu oder versuchten, danach zu greifen, als wollten sie es festhalten, doch das Boot war zu rasch an ihnen vorbei. Tomas erklärte: »Das sind jene, die ohne die Erlaubnis des Fährmanns übersetzen wollten. Sie sind für alle Zeit gefangen.«

Pug sagte leise: »In welche Richtung wollten sie übersetzen?« Tomas antwortete: »Das wissen nur sie selbst.« Das Boot erreichte das andere Ufer, und der Fährmann deutete schweigend zum Land. Sie gingen von Bord, und als sich Pug noch einmal umsah, war das Fährboot verschwunden. Tomas sagte: »Das ist eine Reise, die vielleicht nur in eine Richtung unternommen werden kann. Komm.«

Pug zögerte. Sie hatten gerade eine Grenze überschritten, die jede Rückkehr unmöglich machte. Doch jedes Sträuben war umsonst. Er warf einen letzten Blick auf den Fluß und folgte Tomas.

 

Sie machten eine Pause.

Pug und Tomas waren durch eine leere Ebene aus Grau und Schwarz gegangen, dann hatte sich plötzlich ein riesiges Bauwerk vor ihnen erhoben - falls es wirklich ein Bauwerk war. Es erstreckte sich in beide Richtungen nach rechts und links und verschwand irgendwo am Horizont wie eine Mauer von immenser Ausdehnung. Das Bauwerk erhob sich bis weit in das seltsame Grau hinauf, das an diesem verlorenen Ort den Himmel darstellte, so weit, daß das Auge seine Oberkante nicht erkennen konnte. Es war wie eine Mauer in dieser Realität, allerdings mit einer Tür.

Pug sah über seine Schulter und nahm nichts außer der leeren Ebene wahr. Er und Tomas hatten nur wenige Worte gewechselt, seit sie, wann auch immer, vom Fluß aufgebrochen waren. Es hatte nichts gegeben, über das man hätte reden können, und irgendwie schien es nicht angebracht, die Stille zu stören. Pug sah wieder nach vorn und bemerkte, daß Tomas' Blick auf ihm lag.

Tomas zeigte nach vorn, und Pug nickte; dann stiegen sie die einfachen Steinstufen zu dem riesigen offenen Portal vor ihnen hinauf. Als sie auf der Schwelle waren, blieben sie stehen, weil sie von einem Anblick empfangen wurden, der ihre Sinne verwirrte. In allen Richtungen, auch hinter ihnen, dehnte sich ein marmorner Fußboden aus, auf dem Reihen von Katafalken aufgestellt waren. Auf jedem ruhte ein Leichnam. Pug ging zum nächstgelegenen und betrachtete die Gesichtszüge des Leichnams. Die Gestalt schien zu schlafen, doch die Brust bewegte sich nicht. Es war ein Mädchen, das nicht älter als sieben Jahre alt sein konnte.

Überall lagen Männer und Frauen jeder Art, vom Bettler in Lumpen bis hin zu Leuten, die königliche Gewänder trugen. Manche Gesichter waren alt und zerfurcht, andere zerschmettert oder bis zur Unkenntlichkeit verbrannt. Säuglinge, die bei der Geburt gestorben waren, lagen neben verhutzelten Weibern. Ja, sie hatten die Hallen der Toten erreicht.

Tomas sagte leise: »Es scheint egal zu sein, in welche Richtung wir gehen.«

Pug schüttelte den Kopf. »Wir sind jetzt innerhalb der Grenzen der Ewigkeit. Ich glaube, wir müssen einen Weg finden, oder wir werden für lange Zeit im Kreis wandern. Ich weiß nicht, ob die Zeit hier irgendeine Bedeutung hat, doch falls es so ist, können wir es uns nicht erlauben, sie ungenutzt verstreichen zu lassen.« Pug schloß die Augen und konzentrierte sich. Über seinem Kopf sammelte sich leuchtender Nebel, der sich zu einer pulsierenden Kugel formte und sich dann schnell zu drehen begann. Darin konnte man ein schwaches weißes Licht sehen, dann verschwand der Zauber in eine Richtung. Tomas sah schweigend zu.

Er wußte, Pug setzte eine magische Sehfähigkeit ein, mit der er in wenigen Augenblicken auskundschaften konnte, was zu Fuß Jahre gedauert hätte. Endlich schlug Pug die Augen wieder auf und zeigte in eine Richtung. »Da entlang.«

 

Vor dem Portal zur nächsten Halle warteten stille Gestalten. Dieser Ort hatte etwas Wunderliches; aus einem Blickwinkel sah es so aus, als wären in allen Richtungen weitere Leichname aufgebahrt, die ein regelrechtes Schachbrettmuster formten, aus einem anderen war plötzlich eine neue Mauer sichtbar, die ebenfalls ein riesiges Portal hatte. Davor standen schweigend mehr als tausend Männer und Frauen, Jungen und Mädchen. Während Pug und Tomas näher kamen, richtete sich eine der ruhenden Gestalten auf und stieg von ihrem Katafalk herunter, um an ihnen vorbei zu den Wartenden an der Tür zu gehen. Pug sah zurück und entdeckte eine weitere Gestalt, die sich aus einer anderen Richtung näherte. Er warf einen Blick auf den nun leeren Katafalk und bemerkte, wie darauf anstelle des vorherigen ein anderer Leichnam erschien. Pug und Tomas gingen an denen vorbei, die sich vor der Tür aufhielten. Niemand nahm von den Neuankömmlingen Notiz. Pug berührte eines der Kinder an der Schulter, doch der kleine Junge fuhr nur abwesend über Pugs Hand, als hätte sich dort ein Insekt niedergelassen. Ansonsten verriet nichts an ihm, ob er die Gegenwart des Zauberers wahrgenommen hatte. Tomas deutete mit einem Zucken seines Kopfes an, daß sie weitergehen sollten. Als sie durch die Tür waren, entdeckten sie weitere Leute, die in langen Reihen dastanden, welche sich irgendwo in der Ferne verloren. Wieder reagierte niemand, als sie eindrangen. Schnell gingen die beiden Männer auf die Spitze der Reihe zu.

 

Es kam ihnen vor, als seien schon Stunden verstrichen, seit vor ihnen ein helles Licht erstrahlt war. Tausende von Gestalten bildeten schweigend Reihen in Richtung dieses Lichtes, scheinbar ohne jede Ungeduld. Pug und Tomas gingen an ihnen vorbei; die Mienen der Wartenden waren unmöglich zu deuten. Immer wieder sah Pug, wie manche in einer der Reihen einen Schritt vorwärts machten, doch die Schlange bewegte sich im Schneckentempo. Als sie in die Nähe des strahlenden Lichtes kamen, sah sich Pug um. Sie warfen keine Schatten. Eine weitere Merkwürdigkeit dieses Reiches, stellte er fest. Und dann erreichten sie endlich die Treppe.

An der Spitze eines Dutzends Stufen stand ein Thron, um den herum es golden leuchtete. An der Grenze seines Hörvermögens hörte Pug so etwas wie Musik, doch sie ließ sich nicht wirklich fassen. Er hob die Augen, bis er die Gestalt auf dem Thron sehen konnte. Sie war von erstaunlicher Schönheit und dennoch gleichzeitig erschreckend anzusehen. Ihre Gesichtszüge waren von kaum zu fassender Vollkommenheit, doch irgendwie einschüchternd. Sie betrachtete jeden der Menschen an der Spitze der auf sie zusteuernden Reihen für einige Zeit. Dann zeigte sie auf eine der Gestalten. Meistens verschwanden diese Gestalten dann einfach in das Schicksal, das die Göttin für sie gewählt hatte, doch gelegentlich drehte sich einer um und trat die lange Rückwanderung zur Ebene der Katafalken an. Nach einiger Zeit wandte sie sich den beiden Männern zu, und Pugs Blick wurde von Augen wie schwarze Kohlen gefangen, Augen, in denen sich keine Wärme und kein Licht zeigte, die Augen des Todes. Trotz ihres furchterregenden Auftretens und ihres kreidebleichen Gesichts war diese Gestalt unerträglich verführerisch, und ihre üppigen Formen schrieen danach, umarmt zu werden. Pug spürte, wie sein ganzes Wesen darauf brannte, in ihre Arme geschlossen, an ihren Busen gedrückt zu werden. Er versuchte, seine Kräfte einzusetzen, damit er dieses Verlangens Herr wurde, und er wich nicht zurück. Da lachte die Frau auf dem Thron; ein so kaltes, totes Lachen hatte Pug noch nie zuvor gehört. »Willkommen in meinem Reich, Pug und Tomas. Ihr seid auf einem sehr ungewöhnlichen Weg gekommen.« Pugs Verstand raste. Jedes Wort der Frau traf ihn wie ein eisiger Dolch im Gehirn, ein frostiger Schmerz, als läge es schon jenseits seiner Fähigkeiten, nur zu begreifen, daß die Göttin existierte. Allein sein Wissen und Tomas' Erbe bewahrten sie davor, vom ersten Wort dieser Frau überwältigt und als Tote fortgeblasen zu werden. Doch er hielt das Gleichgewicht und blieb standhaft.

Tomas wagte es zu sprechen. »Meine Dame, Ihr kennt unsere Nöte.«

Die Gestalt nickte. »Wirklich, und vielleicht besser noch als Ihr selbst.«

»Dann werdet Ihr uns also sagen, was wir wissen müssen? Wir möchten Euch nicht länger zur Last fallen als unbedingt notwendig.«

Wieder erscholl das markerschütternde Lachen. »Ihr fallt mir nicht zur Last, Valheru. Vom Eurigen Geschlecht hätte ich schon immer gern jemanden in meine Dienste genommen. Leider haben die Zeiten und die Umstände dies nie zugelassen. Nun, Pug wird ja in einiger Zeit wieder hier erscheinen. Doch wenn das eintritt, soll er sich wie diese hier vor mir geduldig in die lange Reihe stellen, bis es an ihm ist, vor mein Gericht zu treten. Alle warten auf mein Urteil; manche sollen noch einmal für eine weitere Drehung des Lebensrades zurückkehren; andere werden die schlimmste Strafe erfahren - sie werden dem Vergessen anheimfallen -, und nur einige wenige schließlich werden das größte Entzücken erleben, die Einheit mit dem Höchsten.«

»Trotzdem«, fuhr sie fort und erschien plötzlich nachdenklich, »jetzt ist seine Zeit noch nicht gekommen. Nein, wir müssen so handeln, wie es uns vorbestimmt ist. Er, den Ihr sucht, weilt noch nicht in meinem Reiche. Von allen, die dem Reich der Toten geweiht sind, hat er sich bislang am gerissensten erwiesen, wenn es darum ging, meine Gastfreundschaft abzulehnen. Nein, um Macros den Schwarzen zu finden, müßt Ihr an anderer Stelle suchen.«

Tomas dachte nach. »Und dürfen wir erfahren, wo?«

Die Dame auf dem Thron beugte sich zu ihnen vor. »Es gibt selbst für mich Grenzen, Valheru. Richtet den Verstand auf Eure Aufgabe, und Ihr werdet wissen, wo sich der schwarze Zauberer aufhält. Es gibt nur eine einzige Antwort auf diese Frage.« Sie wandte ihren Blick wieder Pug zu. »So schweigsam, Magier? Ihr habt noch gar nichts gesagt.«

Leise sagte Pug: »Ich bin voller Verwunderung. Dennoch, wenn ich mir erlauben darf«, er deutete mit der Hand auf die Umstehenden, »gibt es in diesem Reich auch irgendwelche Freuden?«

Einen Moment lang betrachtete die Dame auf dem Thron die schweigenden Reihen der Leute, die sich vor ihr aufgestellt hatten. Es war, als wäre ihr diese Frage neu. Dann sagte sie: »Nein, hier im Reich der Toten gibt es keine Freuden.« Wieder sah sie den Magier an. »Aber bedenkt, es gibt auch keinen Kummer. Und nun müßt Ihr gehen, weil sich die Lebenden hier nur eine kurze Weile aufhalten dürfen. Und außerdem gibt es auch Wesen in meinem Reich, die Euch großen Schmerz bereiten könnten. Also geht.«

Tomas nickte, verbeugte sich steif und führte Pug fort. Sie eilten an den langen Reihen vorbei, und der Glanz der Göttin verblaßte langsam hinter ihnen. Stundenlang schienen sie zu gehen. Plötzlich blieb Pug wie gelähmt stehen. Ein junger Mann mit welligem braunem Haar stand schweigend in der Reihe und hatte die Augen starr nach vorn gerichtet. Flüsternd sagte Pug: »Roland.«

Tomas blieb stehen und betrachtete das Gesicht seines Gefährten aus Crydee, der schon fast seit drei Jahren tot war. Der Junker nahm von seinen beiden früheren Freunden keine Notiz. Pug sagte: »Roland, ich bin es, Pug.« Wieder kam keine Antwort. Pug schrie den Junker aus der Familie des Tulans an, und in dessen Augen flackerte es kaum wahrnehmbar, als hätte er aus der Ferne eine Stimme rufen hören. Pug stand der Schmerz ins Gesicht geschrieben, als sein Jugendfreund und Rivale um die Gunst von Carline in der langen Reihe derer, die auf das Urteil der Göttin warteten, einen Schritt vorwärts machte. Pug überlegte hastig, was er ihm sagen könnte. Dann schließlich schrie er Roland laut zu: »Carline geht es gut, Roland. Sie ist glücklich.«

Einen Moment lang geschah nichts, dann zuckten Rolands Mundwinkel leicht. Doch Pug meinte erkennen zu können, wie sein Blick jetzt friedlicher nach vorn starrte. Mit einem Mal wurde Pug sich bewußt, daß Tomas' Hand auf seinem Arm lag, und der kräftige Krieger zog seinen Freund von Roland fort. Pug rang einen Moment lang mit sich, doch was nutzte das? Endlich folgte er Tomas. Einen Augenblick später ließ Tomas seinen Arm los. Leise sagte er: »Sie sind alle hier, Pug. Roland, Lord Borric und Lady Catherine. Die Männer, die im Grünen Herz gestorben sind, und jene, die der Geist in Mac Mordain Cadal erwischt hat. König Rodric. Und alle, die im Spaltkrieg gefallen sind. Sie sind alle hier. Das sind jene, von denen Lims-Kragma sagte, daß sie uns Schmerzen bereiten würden, wenn wir sie treffen.«

Pug nickte nur. Wieder einmal spürte er ein tiefes Gefühl des Verlustes für diejenigen, die ihm das Schicksal genommen hatte. Er lenkte seine Gedanken wieder auf den eigentlichen Grund ihrer befremdlichen Reise und sagte: »Und wohin wenden wir uns jetzt?«

»Indem sie uns nicht geantwortet hat, hat uns die Göttin des Todes doch die Antwort gegeben. Es gibt nur einen einzigen Ort außerhalb ihrer Macht, ein Ort, der nicht in unserem Universum liegt. Wir müssen die Ewige Stadt finden, jenen Ort, der jenseits aller Zeit existiert.«

Pug blieb stehen. Er sah sich um und stellte fest, daß sie sich wieder auf der unendlichen Ebene der Katafalke befanden, die alle in ordentlichen Reihen angeordnet waren. »Dann stellt sich nur noch die Frage, wie wir diesen Ort finden.«

Tomas streckte den Arm aus und legte Pug die Hand vor die Augen. Eine schreckliche Kälte durchfuhr den Magier, und seine Lunge wollte explodieren, als er tief Luft holte. Seine Zähne klapperten, er zitterte, sein Körper wand sich schlotternd vor Schmerzen. Er bewegte sich und merkte, daß er auf kaltem Marmor lag. Tomas hatte seine Hand zurückgezogen, und Pug schlug die Augen auf. Er lag auf dem Boden des Tempels der vier verlorenen Götter, kurz vor dem Eingang zur dunklen Höhle. Tomas erhob sich wacklig, nur wenig von ihm entfernt, und so wie er schnappte auch der Valheru nach Luft. Pug sah, wie totenbleich das Gesicht seines Freundes und wie blau seine Lippen waren. Der Zauberer warf einen Blick auf seine Hände. Das Fleisch unter den Nägeln war ebenfalls blau. Er stand auf und fühlte, wie ihm die Wärme langsam wieder in die Glieder kroch, die immer noch schmerzten und zitterten. Als er zu sprechen begann, brachte er nur ein trockenes Krächzen zustande. »Was ist wirklich?«

Tomas sah sich um, doch seine fremden Gesichtszüge verrieten nichts. »Von allen Sterblichen auf dieser Welt solltest du, Pug, am besten wissen, wie unsinnig diese Frage ist. Was wir gesehen haben, haben wir gesehen. Ob es nun ein wirklicher Ort war oder nur eine Einbildung, macht keinen Unterschied. Wir müssen uns nach dem richten, was wir erfahren haben, und demnach, ja, demnach war es wirklich.«

»Und jetzt?«

Tomas sagte: »Ich muß Ryath rufen, und hoffentlich schläft sie nicht zu tief. Wir müssen uns noch einmal auf eine Reise zwischen den Sternen begeben.«

Pug konnte nur nicken. Sein Verstand war wie betäubt, und er fragte sich, welche Wunder wohl noch auf sie warteten.